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Beitrag vom 04.12.2013
Marina Chernivsky im Gespräch mit Tülay Ataç
Tülay Ataç
Kennen gelernt haben sie sich über den Beruf und die gemeinsame Organisation eines Kongresses. Das Projekt "Lokale Geschichte(n)" gab den Anstoß zum Austausch über Identität und Erinnerung,...
... gesellschaftliche Spannungsfelder und Umgang mit kultureller Vielfalt zwischen der Psychologin und Wissenschaftlerin an der Charité in Berlin und Vorstandsmitglied im Dachverband für transkulturelle Psychiatrie, Tülay Ataç, und der Psychotherapeutin, Dozentin, Supervisorin und Leiterin des Modellprojekts "Perspektivwechsel", Marina Chernivsky.
Zeitnot
Die Zeitnot beschreibt ganz gut unsere Beziehung und die Kooperation am Kongress. Es war der Kongress des Dachverbandes für transkulturelle Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, den wir beide mit einem anderen Kollegen zusammen an der Charité organisierten und durch den wir uns kennen gelernt hatten. Es war ein ambitioniertes Projekt, die Themen und der Beruf verbanden uns, doch die Zeitnot ließ ein näheres Kennenlernen und Entdecken nicht zu. Erst danach, im Rahmen vom AVIVA-Projekt, besannen wir uns darauf, uns persönlich anzunähern.
Marina
Marina erzählt mir zunächst zögerlich ihre Geschichte. Ich erfahre erst nach und nach, dass sie aus Israel kommt und 2001 nach Berlin gezogen ist, dass sie als Psychotherapeutin arbeitet und eine einjährige Tochter hat, dass sie fließend hebräisch und russisch sprechen kann und Leiterin von "Perspektivwechsel" ist, eines Projekts, welches das Verständnis für soziale Diversity stärkt und fördert.
"Ich bin in Lemberg geboren, einer Stadt mit Geschichte, eine polnische, jiddische, später auch sowjetische Stadt, ein Schauplatz des Zweiten Weltkrieges, voll historischer Zeugnisse und zerstreuter Erinnerungen. Damals war ich dreizehn, als wir Hals über Kopf nach Israel gezogen sind, ohne Vorwarnung, zwischen Tür und Angel geplant. Eines Tages ist es soweit: Unser Leben ist eingepackt, die wenigen Koffer und Taschen stehen bereit. Die Wohnung sieht erstaunlich lebendig aus, obwohl sie eigentlich leer sein sollte. In meinem Zimmer ist fast alles so geblieben, meine Kinderbücher liegen stapelweise auf dem Boden. Ich habe mir diesen Tag anders vorgestellt. Nun warten wir auf den Bus, der uns nach Warschau fahren wird. Ich schaue zum letzten Mal aus meinem Fenster, blicke auf meine Kindheit zurück und warte geduldig auf den Abschied. Den entscheidenden Moment des Abschieds habe ich aber nicht mehr parat, ich weiß nur, dass meine Mutter die Tür zumacht, für immer, denn zu dieser Zeit gibt es für uns keinen Weg zurück. Erst 2006 komme ich wieder, zu Besuch. Ich bin die einzige aus unserer Familie, die sechzehn Jahre später vor unserem Haus steht. Ich bin da, aber es ist nicht mehr mein Haus, die Schüssel sind weg, diese, die meine Mutter auf dem Tisch liegen ließ, damals an dem berüchtigten Abreisetag, als der Bus auf uns wartete."
In Israel stehen sie vor einem kompletten Neubeginn. Migration ist ein schmerzhafter, schwieriger Prozess, aber er kann auch stärkend sein. In Israel trifft sie auf eine andere, warme, hektische Wirklichkeit. Neue Perspektiven auf Heimat, Zugehörigkeit und Identität tun sich auf. Lemberg weckt noch Sehnsüchte, wirkt nach, aber nur als ein Ort, der biographische Bezüge herstellt, Geschichte hat. Sonst weiß sie, dass sie dort fremd waren, als Juden im eigenen Land, nie komplett drin und nicht ganz draußen. Sie kennt das leise Sprechen, das Gefühl des Andersseins, die Leitsätze ihrer Großmutter: "Wenn man dich danach fragt, ob du jüdisch bist, antworte mit erhobenem Haupt, dass du es bist. Schaue nie zu Boden, es ist nichts, wofür du dich schämen solltest."
Marinas Großmutter, Tante und Mutter
Ihre erste Heimat ist nicht der Nationalstaat, es ist vielmehr eine ungewöhnliche Beziehung zu diesem Ort, den ihre Großmutter so liebte. Ihre erste Heimat ist architektonisch prachtvoll, aber ungemütlich und kalt. Ihre zweite Heimat hingegen ganz neu, und dennoch vertraut. Die Bindung zur Vergangenheit hat ein eigenes Leben, aber es stört sie nicht, eine neue Bindung einzugehen. Ab jetzt werden es immer zwei Heimaten sein, nie nur die eine. In Israel lässt sie sich auf die Gesellschaft ein, lebt im Kibbuz, macht Abitur, wird zur Armee eingezogen, studiert Verhaltenswissenschaften und arbeitet hier und dort als Arbeitspsychologin. Nun haben wir Zeit für mehr, wir diskutieren ein wenig über Identität und Erinnerung, die Kibbuzbewegung und verschiedene geopolitische Blöcke, gesellschaftliche Spannungsfelder und den Umgang mit kultureller Vielfalt.
Berlin
"Meine Kindheit war geprägt von Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Meine Großmutter erzählte gern und ich bat sie jeden Abend um mehr. Viele Geschichten waren dabei, über meinen heldenhaften Großvater, über ihre erste Begegnung kurz nach dem Kriegsende, über die Zeit danach. Die Shoah war ebenfalls präsent, etwas verschleiert, aber in Phasen erzählt, eingeschlichen. In diesem Land gab es damals, politisch gewollt, keine historische sowie gesellschaftlich anerkannte Gedächtnisspur für dieses dunkle Kapitel. Trotz der scheinbaren Präsenz des historischen Narrativs blieb vieles benebelt, einseitig und nicht erforscht. Auch wenn viele Fragen unbeantwortet blieben, war das in Israel nicht mehr vorrangig, andere Prioritäten waren gesetzt. Im Studium bekam das Thema jedoch eine neue Relevanz, ein reges wissenschaftliches Interesse war entstanden. Berlin bot sich an."
Berlin war für sie anziehend, weit, unerreichbar. Der Alltag war durchstrukturiert, es blieb keine Zeit zum Reisen. Aber dann kam der Wunsch nach der Welt. Das Studium der Verhaltenswissenschaften - der Psychologie, Soziologie und Pädagogik - war abgeschlossen, das neue Berufsleben intensiv. Der Gedanke, weiter zu studieren, war gekommen, warum denn nicht in Berlin? Über eine ihrer Tanten, die damals am Max Planck Institut arbeitete, kommt Marina vor zwölf Jahren nach Berlin und lernt erneut eine für sie damals komplett neue Sprache. Ihre Großeltern hatten früher zwar Jiddisch gesprochen, doch Marina selbst spricht es nicht. Sie bewirbt sich für den Studiengang der Klinischen Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin und wird angenommen. Zwei Jahre später müsste sie fertig sein, aber anders als geplant wird Berlin zu einer zweiten Migration, diesmal freigewählt, auch wenn nicht ohne Zweifel, denn die Absicht war, zurückzukehren, nach Tel Aviv. Doch es kommt anders. Sie studiert, arbeitet im Bereich der historisch-politischen Bildung, ist nah an Themen dran, die sie immer schon bewegten. Nebenberuflich macht sie die Ausbildung in Psychologischer Psychotherapie, leitet Projekte im Bildungsbereich, arbeitet als Therapeutin und Supervisorin, bekommt ihr erstes Kind. Berlin bindet, hat mal jemand zu ihr gesagt, sie denkt es nun auch.
"Es ist wichtig, sich für einen der Stühle zu entscheiden, ohne den anderen in die Ecke zu schieben, wohlwissend, dass es zwei Stühle sind und auf Dauer sein werden. Es ist ein gemischtes Gefühl, in Deutschland zu leben. Aber ich fühle mich hier angekommen. Die mehrfachen Identitäten und Zugehörigkeiten, die verschiedenen Welten, die sich nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig ergänzen, inspirieren mich immer wieder aufs Neue, geben mir Kraft, prägen meinen Blick auf andere."
Marina Chernivsky ist Diplompsychologin und Verhaltenstherapeutin (i.A.). Sie arbeitet als Psychotherapeutin, Dozentin, Supervisorin und leitet das Modellprojekt "Perspektivwechsel" der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), das seit 2006 im Freistaat Thüringen umgesetzt wird. Sie ist Vorstandsmitglied im Dachverband für transkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum (DTPPP e.V.) und Mitglied im Präsidium der Deutschen Soccer Liga e.V.
Zur Biographin: Tülay Ataç hat Sprachen (Französisch/Anglistik/Turkologie bis zur Zwischenprüfung) und Psychologie in Berlin und Paris studiert, ist Diplompsychologin und Psychotherapeutin (i.A. an der Psychologischen Hochschule Berlin) und arbeitet als Psychologin und Wissenschaftlerin an der Charité in Berlin. Sie ist Vorstandsmitglied im Dachverband für transkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum (DTPPP e.V.), Mitglied der Gesellschaft für türkischsprachige Psychotherapie und psychosoziale Beratung (GTP e.V.) und der Deutsch-Türkischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosoziale Gesundheit (DTGPP e.V.). Wissenschaftlich interessiert sie sich für integrative Psychotherapieverfahren, Migration und Psychotherapie, Diversity und Beratung, Konflikt- und Friedensforschung, politische Psychologie, transkulturelle Psychotherapie und Beratung.
© Copyright Foto von Tülay Ataç: Sharon Adler
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